“Schäm dich!” ist ein (überwiegend mütterlicher) Befehl, der (fast) nie befolgt wird. Denn er ähnelt dem anderen Befehl: “Sei doch endlich mal spontan!” Das kann sicher so nicht befolgt werden. Aber doch ist nicht ausgeschlossen, im Gegenteil, dass Scham zu einer Antwort erzogen werden muss und dass es auch hier ein Lernen gibt. Denn Scham ist ein anthropologisches Datum. Sie lässt sich allgemein bestimmen als “schmerzliches Bewusstsein einer unaufhebbaren Unvollkommenheit”. Zu dieser Wahrnehmung erziehen Kulturen und Religionen, um zugleich Hilfe (Verbote oder Rat) anzubieten. Und so wird Scham hilfreich: Sie wird ein Sensorium für Erniedrigung, und sie lernt die eigene Identität zu wahren.
Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz ist Philosophin, Sprach- und Politikwissenschaftlerin. Von 1993 bis 2011 war sie Lehrstuhlinhaberin für Religionsphilosophie und vergleichende Religionswissenschaft an der Technischen Universität Dresden. Seit 2011 Leiterin von EUPHRat (Europäisches Institut für Philosophie und Religion) in Heiligenkreuz bei Wien.