Gespräch nach der Vorstellung

Ein Abend vor Pfingsten

Die Jünger haben sich zurückgezogen, eine unübersichtliche Situation, sie wissen nicht mehr weiter. Verunsicherung und Furcht gehen dem Pfingstwunder voraus.
Könnte das Anlass sein, uns über die Situation, in der wir uns befinden, auszutauschen? Uns von ihr in Frage stellen zu lassen und Fragen zu stellen, diese vielstimmigen, chaotischen Eindrücke in der Tiefe produktiv zu machen und Unsicherheiten als inspirierende Resonanzräume wahrzunehmen?

Ein Abend vor Pfingsten 2020. Im Mariengarten der Akademie, unter freiem Himmel, treffen zusammen: eine evangelische und eine katholische Theologin, eine Performance-Künstlerin, ein Erzähler, eine säkulare Trauerrednerin, ein Priester, eine Philosophin und eine Seelsorgerin.

Alle haben die letzten Wochen ganz unterschiedlich erlebt: Als existenzbedrohend, weil es keine Aufträge mehr gibt. In Sorge um kranke Angehörige. Oder ohne größere Sorgen.
Mit viel zu viel Zeit, die einen erschlägt und in der keine Muße aufkommen konnte, und die so als lähmende Leere erlebt wurde. Oder mit viel zu wenig Zeit, weil entweder Beruf oder die doppelten Anforderungen durch Kinder und Beruf über alle Maßen strapaziert haben. Alle haben zunächst „nur“ reagiert – jeder und jede auf eigene Weise, an seinem oder ihrem Ort.
Absagen wurden hingenommen. Und ausgesprochen. Der Priester berichtete von seinem inneren Widerstand, die Glockenautomatik der Kirche auszuschalten.
Bei manchen ist Neues entstanden. Eine ist in eine Kommune gezogen, gemeinsam haben sie ein Haus renoviert. Manche haben Altes wiederentdeckt oder auch schmerzlich vermisst. Daraus sind viele neue Möglichkeiten entstanden. Doch zu was?

Zunächst gibt es ein großes Gefühl der Dankbarkeit. Vom „Segen der Kommunikation“ ist die Rede: „Gottseidank passiert das in einer Zeit, in der man trotzdem kommunizieren kann“. Kommunikation ist anders, aber sie ist möglich. Große Dankbarkeit auch, in genau diesem Land zu leben: mit diesem Gesundheitssystem. Mit dieser Kanzlerin, einer Wissenschaftlerin. Mit einer Regierung, die tatsächlich Soforthilfen für Freischaffende auszahlt. Welche Verpflichtung erwächst aus dieser Dankbarkeit?
Zwei Antworten werden genannt: Zurückzugeben und weiterzugeben an diejenigen, die am meisten auf Hilfe angewiesen sind, an die Schwächsten im System.
Und, zweitens ein Aufruf aus anderen Ländern, u.a. Libanon, Iran, China… Dort, so mahnen die Menschen vor Ort, sind alle Proteste, Demokratiebewegungen usw. zum Erliegen gekommen. Die Menschen dort sind damit, ihren Alltag zu sichern, genug zu essen zu haben, gesund zu bleiben, völlig überlastet. Nun müssen die Menschen, die es sich leisten können, für eben diese Menschen diese Diskurse führen. Wir.

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Ist Theologie systemrelevant? Ist sie es dann, wenn sie es für alle Menschen, auch für Nichtglaubende und Skeptiker, sein kann?
Theologie kann „Hebamme für die Tränen“ sein. Auch wer selbst gesund in seinen eigenen vier Wänden ist, ist berührt worden von den Bildern der Leichenwagen aus Bergamo. Hat vielleicht Angst, alleine zu sterben, antizipiert schon die vielen Toten, die es erst noch geben wird, dort, wo es ohnehin keine Atemgeräte gibt.
Ein Bild, das alle Gesprächsteilnehmer, Gläubige und Nichtgläubige, wenn auch auf unterschiedliche Art, stark berührte, war das Bild des Papstes auf dem leeren Petersplatz. Es eröffnete einen Raum, in dem viele Sorgen, Ängste, Ratlosigkeiten und Hoffnungen Platz finden konnten. Hier war einer „Hebamme für die Tränen“. Das wurde auch von Nichtgläubigen so wahrgenommen.

Dass Corona Gutes und Schlechtes aus den Menschen hervorholt, wurde vielerorts schon erwähnt. Dabei ist unerheblich, wie stark die Menschen dabei tatsächlich beeinträchtigt sind.
Die Unsichtbarkeit der Gefahr („Vielleicht hab’ ich es? Oder schon gehabt? Hast du es?“), die Abstraktheit der Bedrohung lässt viel Raum für Phantasie und auch für Angst.

Es wird deutlich, wie verbunden wir alle miteinander sind – und zwar nicht nur materiell.
Zurückgeworfen auf sich selbst, merkt der einzelne, dass er so vieles anderen verdankt und sich fragt: Wer verschafft mir jetzt Pausen? Woher bekomme ich neue Impulse?

„Ich habe seit zwei Monaten keinem Menschen die Hand gegeben, keinen Menschen berührt. Einander die Hand geben ist eine unverzichtbare Geste!“ ist eine Erkenntnis, die der Priester formuliert. Trauerrednerin und Priester berichten, wie sehr Trauernden diese Gesten fehlen und wie unverzichtbar der Leichenschmaus, das gemeinsame Essen für die Verabschiedung eines Verstorbenen sind.
Einer meinte zu beobachten, dass manche Menschen mit dem Tod nun noch „hygienischer, krasser, medizinischer“ umgehen als zuvor. Und andere in Bezug – sowohl in Bezug auf sich selbst als auch auf Sterbende – radikal gnadenlos („Bevor ich mal so daliege, fahr ich in die Schweiz.“). Schlimm ist für alle die Vorstellung, alleine sterben zu müssen. Wobei die Frage offen bleibt, ob das „schlimmer“ ist für die, die dableiben, oder für die, die gehen.

Das führt zur nächsten Frage, von einer älteren Dame so formuliert: Für welche Zukunft soll ich denn geschützt werden? Sie zeigt: Die, die geschützt werden, müssen annehmen, ohne gefragt worden zu sein. Manchen fällt das schwer.

Im Märchen ist das Nichtmehrweiterwissen meist der Beginn einer neuen Entwicklung: „Sie setzte sich auf einen Stein und wußte nicht mehr aus noch ein. Da hörte sie auf einmal eine Stimme…“

Das Gespräch am Dienstag vor Pfingsten wollte der Ratlosigkeit Raum geben. Die verschiedenen Fragen benennen. Gibt es Zeichen der Zeit in diesen Zeiten? Wie sind sie zu entziffern? Es kann keine Antworten auf diese Fragen geben. Nur Gespräche. Wie dieses vor Pfingsten im Mariengarten.

Gesprächsteilnehmer: Dr. Gesine Palmer, Sandra Lenke, Franziska Pierwoß, Christoph Jan Karlson, Klaudia Höfig, Marina Sawall (beide nicht im Bild)

Gastgeber: Peter Gößwein und Katrin Visse


Text: Katrin Visse, Mitarbeit: Peter Gößwein, Protokoll: Marina Sawall

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